Medieneffekte im Rahmen der Suizidberichterstattung

Suizidalität ist ein komplexes Phänomen. Die Forschung hat eine Vielzahl von gesellschaftlichen und individuellen Faktoren identifiziert, welche einen Einfluss auf suizidale Handlungen und Gedanken haben können. Ein einzelner Suizid ist von daher nie das Ergebnis eines einzelnen Einflusses, auch nicht eines Berichtes in den Medien. Mit der Art und Weise und dem Ausmaß des Einflusses beschäftigt sich seit über 60 Jahren die Forschung.

Die Forschung über Medieneffekte in der Suizidberichterstattung begann mit einer Untersuchung des Soziologen David Phillips im Jahre 19741. Er konnte erstmals einen Zusammenhang zwischen den Suiziden prominenter Persönlichkeiten und der Suizidrate in der Allgemeinbevölkerung feststellen. Diesen Zusammenhang nannte er „Werther-Effekt“. In den folgenden Jahrzehnten stand die Vermeidung der Suizidberichterstattung im Vordergrund suizidpräventiver Anstrengungen. Allerdings gab es auch schon früh aktive Eingriffe mit dem Ziel der Vermeidung von suizidalen Handlungen. Dazu gehörte z.B. die Intervention von Psychiaterinnen und Psychiatern durch die aktive Verbreitung der Stellungnahme von Kurt Cobains Ehefrau Courtney Love nach dessen Suizid im Jahr 1994. Sie äußerte dort ihre Trauer, gab aber auch heftig ihrer Wut Ausdruck und entidealisierte damit ihren verstorbenen Partner. Die zu erwartenden Folgesuizide blieben in diesem Fall nach Auswertung der Statistiken weitgehend aus.

Um die Jahrtausendwende setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Vermeidung der Suizidberichterstattung zwar Folgesuizide verhindern könnte, gleichzeitig aber die weitere Tabuisierung der Suizidthematik fördere. Die Tabuisierung verhinderte den öffentlichen Diskurs über die Suizidproblematik, behinderte suizidpräventive Anstrengungen, förderte Vorurteile und lies die Betroffenen und deren Angehörigen in ihrer Not allein. In der Folge entwickelte sich im Bereich der Suizidprävention eine aktive Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Deren stärkster Ausdruck ist der im Jahre 2003 von der Weltgesundheitsorganisation WHO und er „International Association for Suicide Prevention“ (IASP) ausgerufene jährliche „Welttag der Suizidprävention“ am 10. September, der ausdrücklich auf die Öffentlichkeitsarbeit fokussiert ist.

Derzeit steht nicht die Frage im Vordergrund, ob über die Suizidproblematik berichtet wird, sondern deren Art und Weise. Dies drückt sich auch in den in vielen Ländern weltweit vorliegenden Medienempfehlungen aus.

In der Forschung werden negative Wirkungen der Medienberichterstattung sowie potentielle positive Effekte untersucht. Stärker als eine generelle Zweiteilung in eine positive versus negative Wirkung der Berichterstattung entwickeln sich Erkenntnisse über die unterschiedlichen Auswirkungen der Berichterstattung auf unterschiedliche Gruppen gefährdeter Rezipierender. Die Gruppe der suizidgefährdeten Menschen ist äußerst heterogen. Das bedeutet, dass jede Berichterstattung tendenziell auf eine Gruppe eher positive, auf eine andere Gruppe keine und auf eine weitere Gruppe eher negative Auswirkungen haben kann. Daher können theoretisch sowohl positive als auch negative Wirkungen bei einer bestimmten Art der Berichterstattung gleichzeitig auftreten.

Eine Berichterstattung, die sich an den aktuellen Medienempfehlungen orientiert, hat mit großer Wahrscheinlichkeit keinen negativen Effekt auf die Gesamtzahl der suizidalen Handlungen.

Tendenziell negativ wirkende Einflüsse der Medienberichterstattung

In der Medienwirkungsforschung besteht die Annahme, dass die Zahl der Suizidfälle deutlich ansteigt, nachdem in den Medien ausführlich über einen fiktiven oder tatsächlich stattgefundenen Suizid berichtet wird, siehe „Werther-Effekt“. Der Effekt tritt umso stärker auf, je ausführlicher und prominenter die Berichterstattung ist und je berühmter der durch Suizid verstorbene Mensch ist. Als statistisch verstärkende Effekte wurden u.a. der Grad der Identifikation, die Darstellung von Art und Methode, die bildliche Darstellung des Suizidenten und das Verständnis für die vorgebliche Suizidmotivation erhoben.

In vielen Untersuchungen wurde dieser Einfluss von Medienberichten auf suizidales Verhalten nachgewiesen. Die Publikation von Derek Humphry‘s “Final Exit“ aus dem Jahr 19912 hatte in New York eine Steigerung der Suizide mit den im Buch beschriebenen Methoden zur Folge. Der Fernsehsendung „Tod eines Schülers“ folgte eine Erhöhung der Anzahl von Suiziden Jugendlicher3. Der in Deutschland aktuell bekannteste Fall eines Werther-Effekts entstand in Folge der Berichterstattung des Suizids von Robert Enke. Die Anzahl der suizidalen Vorfälle auf den Gleisen der Deutschen Bahn stieg in den Tagen nach Enkes Suizid von durchschnittlich 2,3 auf durchschnittlich neun Fälle pro Tag. Einer Datenauswertung von Markus Schäfer und Oliver Quiring (2013)4 zufolge töteten sich in den drei Wochen nach dem Unglück 133 Menschen mehr als in dem Zeitraum zu erwarten gewesen wären. Viele Medien hatten bei der Berichterstattung zum Tod Robert Enkes die Hinweise und Richtlinien der Suizidpräventionsstellen nicht angewandt. Generell können Bahnübergänge aber auch andere markante Orte, über die es Suizidberichte gibt, zu sogenannten „Hotspots“ werden, an denen eine überdurchschnittliche Zahl von Suiziden stattfinden.

Namensgeber für den Werther-Effekt ist Goethes Werk “Die Leiden des Jungen Werther”, das im Jahr 1774 Berühmtheit erlangt hat. Im Briefroman wird erzählt, wie der junge Werther in seinem Leben keinen Sinn mehr finden kann, da seine Angebetete seine Liebe nicht erwidert. Bekleidet in blauem Frack, gelber Weste und gelber Hose nimmt er sich daraufhin das Leben. Es wird angenommen, dass mit dieser detaillierten Beschreibung des Tathergangs Goethe eine Welle an Nachahmungstaten mit gleicher Bekleidung und gleicher Methode ausgelöst haben könnte. Abschließend konnte dies jedoch nicht geklärt werden. 

Tendenziell positiv wirkende Einflüsse der Medienberichterstattung

Generell wird einer zurückhaltenden Berichterstattung über Suizide ein positiver Einfluss auf die Anzahl suizidaler Handlungen zugeschrieben. In Wien waren z.B. Mitte der 80er Jahre vor allem U-Bahn-Suizide häufig Gegenstand der Berichte in den Medien. Durch eine vom Österreichischen Verein für Suizidprävention initiierte zurückhaltende Berichterstattung in den Medien reduzierte sich die Zahl der U-Bahn-Suizide um mehr als 70 % und blieb seitdem auf niedrigem Niveau.

Generell geht man davon aus, dass eine eher sachliche Information über die Suizidproblematik, der Verweis auf Hilfsmöglichkeiten und insgesamt eine an den Medienempfehlungen orientierte Berichterstattung einen günstigen Einfluss auf die Anzahl suizidaler Handlungen haben.

Mittlerweile gibt es erste Untersuchungsergebnisse zu positiven Medieneffekten, welche die Entwicklung von Medienempfehlungen weiter konkretisieren könnten. Thomas Niederkrotenthaler et al. (2010)5 konnten durch die Analyse von 500 Zeitungsberichten über vollendete und vermiedene Suizide und den Suizidraten kurz nach deren Publikationen in Zeitungsartikeln nachweisen, dass sich Suizidraten senken können, nachdem Medinschaffende darüber berichtet haben, wie Personen mit Suizidgedanken umgegangen sind und diese bewältigt haben. Solche „Ermöglichungsgeschichten“ seien zentral, um einen positiven Effekt bei den Betroffenen zu erzielen. Diese Erzählungen beschreiben positive Identifikationsfiguren, Bewältigungsstrategien, erfolgreiche medizinische Hilfe sowie die Erkenntnis auf Hoffnung. Dieser positive Effekt der Medienberichterstattung wird von Niederkrotenthaler et al. als „Papageno-Effekt“ bezeichnet. Der Name geht auf eine Szene aus Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Zauberflöte“ zurück. In dieser Szene leidet Vogelfänger Papageno an suizidalen Gedanken und ist kurz davor, sich sein Leben zu nehmen. Doch im letzten Moment retten ihn drei Jungen, indem sie ihm positiv zureden.

Alice Ruddigkeit (2010)6 klassifizierte die von ihr untersuchten Medienberichte in vier Gruppen: „Junge Opfer“, „Vage Prominenz“, „Konspirative Umstände“ und „Anonyme Täter“. In die letzte Gruppe der „Anonymen Täter“ fielen besonders Suizide, die nach der Tötung von Anderen erfolgt sind, negativ konnotierte Suizide sowie Suizide bei denen Angaben zur Person des Verstorbenen weitgehend fehlten. Nur nach Berichten der Gruppe „Anonyme Täter“ konnte Ruddigkeit ein signifikantes Absinken der Suizidrate in der Folgewoche nachweisen. Sie nannte dies den „umgekehrten Werther-Effekt“. Mark Sinyor et al. (2018)7 konnten ebenfalls tendenziell keinen Anstieg der Suizidrate nach der Berichterstattung über „murder-suicides“ erheben. Weitere Forschungen werden ergeben, wie diese neueren Erkenntnisse in Medienempfehlungen übernommen werden können.

1 David P. Phillips: The Influence of Suggestion on Suicide: Substantive and Theoretical Implications of the Werther Effect. In: American Sociological Review. 39 (1974), S. 340–354.

2 Humphry, Derek. (1991). Final exit. Dove Audio.

3 Schmidtke, Armin & Haefner, Heinz (1986). Die Vermittlung von Selbstmordmotivation und Selbstmordhandlung durch fiktive Modelle. Die Folgen der Fernsehserie 'Tod eines Schülers'. Nervenarzt 57.9 (1986): 502-510.

4 Schäfer, Markus & Quiring, Oliver (2013). Gibt es Hinweise auf einen „Enke-Effekt“? – Die Presseberichterstattung über den Suizid von Robert Enke und die Entwicklung der Suizidzahlen in Deutschland. Publizistik, 58 (2), 141-160.

5 Niederkrotenthaler, Thomas, Voracek, Martin, Herberth, Arno, Till, Benedikt, Strauss, Markus, Etzersdorfer, Elmar, Eisenwort, Brigitte & Sonneck, Gernot (2010). Role of media reports in completed and prevented suicide: Werther v. Papageno effects. The British Journal of Psychiatry, 197(3), 234-243.

6 Ruddigkeit, Alice (2010). Der umgekehrte Werther-Effekt - Eine quasi-experimentelle Untersuchung von Suizidberichterstattung und deutscher Suizidrate. Publizistik (2010) 55:253–273

7 Sinyor, Mark, Schaffer, Ayal, Nishikawa, Yasunori, Redelmeier, Donald A., Niederkrotenthaler, Thomas, Sareen, Jitender, Levitt, Anthony J., Kiss, Alex & Pirkis, Jane (2018). The association between suicide deaths and putatively harmful and protective factors in media reports. CMAJ, 190(30), E900-E907.